
- Editor: Robert Gollo Steffen
- Edition: 1. Auflage
- Available in: Taschenbuch, eBook
- ISBN: 978-2-87967-230-4
- Published: November 1, 2017
Nach Exit Schattenkopf ist Chamäleons das zweite Buch von Anja Di Bartolomeo, mit dem diese Schriftstellerin im Dezember 2017 als Preisträgerin im Nationalen Literaturwettbewerb in Luxemburg ausgezeichnet wurde.
„Alles was man unterdrückt, taucht irgendwann wieder auf. Wenn das Verborgene wieder an der Oberfläche erscheint, ist man allein. Den unendlichen, fremden Horizont vor den unruhigen Augen, die sich mit dem schnell pochenden Herzen zu einem Ungewissheitstanz synchronisieren. Wenn das Innere sich nach außen kehrt, ist jeder auf sich gestellt. Es gibt keinen guten und auch keinen bösen Geist, der einem dann zur Seite steht. Es gibt niemanden. Und nichts. Nichts als den Weg, der weit und dunkel vor dir liegt.“
Anja Di Bartolomeos Figuren sind Einzelgänger im schnellen Atem der Stadt. Sie warten und sind auf der Suche. Am Flughafen, vor fremden Häusern und in der Geisterbahn. Sie könnten ausbrechen. Sie sind wie wir. Chamäleons denen irgendwann die Farbe ausgeht.
Da ist Paul, der von Flughafen zu Flughafen und von Krise zu Krise reist und sich dabei selbst aus den Augen verliert. Es könnte anders sein. Wenn er sich nur losreißen könnte.
Da ist der nette Jimmy, der es einfach nicht schafft, das Leben der anderen zu leben. Untertaucht, wiederauftaucht und wieder verschwindet. Seine Freunde machen sich auf die Suche. Doch wonach eigentlich?
Gerti will in den Park. Zu den Blumen und den Tauben. Sie trifft Clemens, der nur eines im Kopf hat. Endlich den großen Coup landen und von seinem Chef mit Vornamen angesprochen werden. Alles kommt anders
Sophie will ihren ersten Achttausender schaffen, die ganz große Coverstory. Um jeden Preis. Doch was ist der Preis?
Klara hat Nachtschicht. Morgen wird Joachim Metzger tot sein. Sie hat wenig Zeit, sich zu entscheiden. Acht Stunden um abzuschließen und endlich Rache zu nehmen.
Konstantin wechselt nur das Büro. Und Marie will eigentlich nur einen Brief abgeben. Auf dem Spiel steht so viel mehr.
In den acht Erzählungen geht um alles oder nichts. Um die kalte Angst vor dem nackten Leben und die unfassbare Grausamkeit, Entscheidungen zu treffen.
Leseprobe aus Chamäleons:
Anfangs verbrachte ich die Tage mit Zeitung lesen. Am liebsten die Feuilletons der SZ und der Zeit. Manchmal auch Stern oder Bild. Ich verschlang Berichte über Schädlingsbekämpfung und alternative Dünger. Ich informierte mich über Farbberatung und Giftstoffe im Nagellack. Als die Langeweile zu groß wurde, lud ich Netflix herunter. Wenn ich einsam war, las ich Comics, wenn ich sauer war, sah ich mir The Killing an. Ich machte Kreuzworträtsel, lernte Spanisch und chattete mit Tokio. Ich verfasste Statistiken über die Trefferquote der Wettervorhersagen und analysierte den Wahlverlust der SPD im Saarland. Ich hörte Musik, strich die Mauern neu und reparierte das Waschbecken. Manchmal telefonierte ich. Widerwillig, denn das Reden fiel mir schwer. Ich adoptierte einen Wolf in Rumänien, sponserte den FC Ismaning und zeichnete ein neues Logo für den Neufahrner Schützenverein. An manchen Tagen komponierte ich sogar Lieder. Obwohl ich nicht mal Noten kenne. Manchmal tat ich nichts.
Vor allem befasste ich mich mit meinen Pflanzen. Susanne, Helmut und Bernd. Morgens fragte ich sie, wie es ihnen gehe. Ich fütterte sie, erzählte ihnen, was mir durch den Kopf ging, und hörte ihnen zu. So gut es halt ging. Irgendwann bestellte ich weitere Pflanzen. Ein Olivenbäumchen, das ich auf den Namen Giorgio taufte, und einen kleinen Zitronenbaum, den ich Francesca nannte. Es folgten eine Jasminpflanze, namens Jasmin, ein weiterer Ficus – Klaas – und ein Riesenkaktus, den ich feierlich auf den Namen Maximus Stachelus taufte. Er stellte sich mir mit Vorliebe in den Weg und morgens, wenn ich die Tür öffnete, musste ich den Bauch einziehen, um mich elegant an ihm vorbeizuschlängeln. An manchen Tagen waren wir gut drauf, an anderen Tagen mittelmäßig. An anderen einfach nur mies. Meistens war es o. k. An Montagen teilte ich meinen Kaffee mit ihnen (eine Maschine hatte ich mir nach dreitägigen Testauswertungen zugelegt), am Dienstag nahm ich Bernd mit zum Chinesen und anschließend in den Park. Am Mittwoch lud ich Jasmin zum Feierabendbier ein. Francesca war meine Squashpartnerin, aber als sie verstärkt Zitronen ließ, beschloss ich, besser auf Helmut umzusteigen. Am Freitag gab es Bier und für meine Pflanzen bestes Wasser. Ich sprach über Autos, Frauen und Politik. Und wir waren uns jedes Mal einig, dass Farbberatung Unsinn sei. Es war eine gute Zeit. Aber nach genau einem Jahr, am 16. Juni 2017, sollte Schluss sein.
Ich hatte diesen Traum. Ich saß in meinem Büro. An der Tür hing in fetten Buchstaben mein Name. Konstantin. Vor dem riesigen Glasfenster standen die Kollegen und glotzten mich an. Ich versuchte ihnen zuzuwinken, doch ich konnte nicht. Nur die Pflanzen bewegten sich. Erst langsam, dann etwas schneller und am Ende ganz bestimmt. Sie streckten ihre Arme nach mir aus, sie näherten sich in schraubenden Drehbewegungen, kamen näher und ich presste mich in meinen kalten Stuhl. Ich wollte wegrennen, schaffte es nicht, und als sie vor mir hin und herschwangen, begann ich zu schreien, lauter und immer lauter, aber die Kollegen, die immer noch draußen vor dem Fenster standen, blieben starr und überließen mich den gierigen, hungrigen Klauen des Grünzeugs. Es gab keinen Ausweg. Niemand wollte mich hören. Während ihre kalten Arme sich fest um meinen Hals schlangen und mir den Atem nahmen, bemerkte ich, wie meine Buchstaben Stück für Stück von der Tür purzelten. Am Ende blieb nur ein schiefes K. Als ich kleiner und kleiner in meinem Bürostuhl wurde und mich schließlich auflöste, sahen die Kollegen wortlos zu.